Notifizierung 2020/280/F in-vitro Mutageneseverfahren

Frankreich Notifizierungsverfahren 2020/280/F – „in-vitro-Mutageneseverfahren"

Novellierung der Umweltgesetzgebung Art. D 531-2 - Umsetzung von EuGH-Urteil (C-528/16)

Hintergrund: Die Entscheidung des Conseil d´Etat

Frankreich musste auf das EuGH-Urteil (► C-528/16) zur gentechnikrechtlichen Einordnung von Mutageneseverfahren zeitnah reagieren und eine Entscheidung treffen. Diese erfolgte am 07.02.2020 durch den Conseil d´État (der Staatsrat), Frankreichs höchstem Verwaltungsgerichthof. Er entschied auf Aktenlage, dass alle Pflanzen, die mit Hilfe von in-vitro Mutageneseverfahren* gezüchtet wurden, grundsätzlich gentechnisch veränderte Organismen (GVO) darstellen und somit allen Regularien aus der Gentechnik- und Umweltschutzgesetzgebung zu unterwerfen sind. Der Gerichtshof hat der Regierung eine Frist von 6 Monaten gesetzt, das Umweltgesetz (Art. D 531-2, Buchstabe a) diesem Urteil anzupassen. Der Hohe Rat für Biotechnologie soll eine Liste von in vitro Mutageneseverfahren zusammenstellen, die seit langem angewandt werden und erfahrungsgemäß mit keiner Schädigung der „öffentlichen Gesundheit oder der Umwelt“ verbunden sind. Für diese soll dann eine Ausnahmeregelung ähnlich wie in Annex I B der Freisetzungsrichtlinie 2001/18/ EG angewandt werden. Weiterhin muss die Regierung innerhalb von neun Monaten ermitteln, welche im Sortenkatalog (2002/53/EC) aufgenommene Pflanzen durch in vitro Mutageneseverfahren erzeugt wurden und nun den Bestimmungen des Gentechnikrechts und des Umweltschutzgesetzes unterliegen. Pflanzen, die nicht nach diesen Regularien in den Sortenkatalog aufgenommen wurden, müssen aus dem Sortenkatalog gestrichen und vom Markt genommen werden.


 * in-vitro-Zufallsmutagenese: Behandlung  z.B. von Pflanzenzellen mit mutagenen Chemikalien oder ionisierenden Strahlen 

Umsetzung

Entsprechend des Urteils des Staatsrates hat die französische Regierung einen Entwurf für die Änderung von Art D.531-2 des Umweltgesetzes erarbeitet.

Dekret Nr. […] vom […] über die Änderung der Liste der Verfahren zur Gewinnung genetisch veränderter Organismen, die herkömmlich angewendet wurden, ohne nachweislich die öffentliche Gesundheit oder die Umwelt zu schädigen.“


Im 1. Absatz werden nach den Worten „dass sie zu einer genetischen Veränderung führen“ die Worte „oder die herkömmlich angewendet wurden, ohne nachweislich die öffentliche Gesundheit oder die Umwelt zu schädigen“ eingefügt;

 

Absatz 2 a erhält folgenden Wortlaut: „a) Zufallsmutagenese, mit Ausnahme der In-vitro-Zufallsmutagenese, bei der in vitro kultivierte Pflanzenzellen chemischen oder physikalischen Mutagenen ausgesetzt werden“.

 

Artikel 2 Pflanzenkulturen, die durch ein Verfahren der In-vitro-Zufallsmutagenese gemäß Artikel D. 531-2 Absatz 2 a des Umweltgesetzbuchs in seiner sich aus dem vorliegenden Dekret ergebenden Fassung gewonnen und gesät bzw. gepflanzt wurden, bevor sie in eine durch Erlass des Landwirtschaftsministers festgelegte Liste eingetragen wurden, in der die Sorten aufgeführt sind, deren Eintragung in den Katalog gestrichen wurde oder welche die Voraussetzungen für eine solche Streichung erfüllen, können zu Ende geführt werden.


Ebenso wurde eine ► Liste mit den Pflanzen erstellt, die aus dem Sortenkatalog gestrichen werden sollen, da sie durch in-vitro Zufallsmutagenese generiert wurden. 


Das Notifizierungsverfahren

Die Umsetzung dieses Dekrets (Erlasses) hat möglicherweise Auswirkungen auf den gemeinsamen Binnenmarkt und deshalb musste Frankreich es entsprechend der ► Richtlinie (EU) 2015/1535 der Kommission zur Notifizierung vorlegen.

 „Gemäß der Richtlinie (EU) 2015/1535 müssen die Mitgliedstaaten die Kommission über jeden Entwurf einer technischen Vorschrift vor deren Erlass unterrichten. Ab dem Datum der Notifizierung des Entwurfs ermöglicht eine dreimonatige Stillhaltefrist – während der der notifizierende Mitgliedstaat die fragliche technische Vorschrift nicht annehmen kann – der Kommission und den anderen Mitgliedstaaten, den notifizierten Wortlaut zu prüfen und angemessen zu reagieren.“


Zum Notifizierungsverfahren siehe: https://www.biotech-gm-food.com/gesetze/notifizierungsverfahren-richtlinie-2015-1535-gemeinsamer-binnenmarkt


Frankreich hatte am 06.Mai.2020 den ► Entwurf des Dekrets zur Notifizierung vorlegt. Die Kommission sowie die Mitgliedsstaaten konnten bis zum 07. August 2020 auf diesen Entwurf reagieren (Abgabe von Kommentaren oder ausführliche Stellungnahmen). Bis Ende der Stillhaltefrist hatten Finnland, Österreich und Schweden Kommentare sowie die Kommission, Dänemark, Italien, Niederlande, Spanien, Tschechien ausführliche Stellungnahmen abgegeben. Aufgrund der Abgabe ausführlicher Stellungnahmen wurde die Stillhaltefrist bis zum 06.11.2020 verlängert. Frankreich muss zu den Ausführungen Stellung beziehen und sie bei einer Umsetzung des Dekrets berücksichtigen. 

Zusammenfassung der ausführlichen Stellungnahme der Kommission

► Mitteilung 315 der Kommission - TRIS/(2020) 02950, Notifizierung: 2020/0280/F, 2020/0281/F, 2020/0282


Die Kommission hat ernsthafte Bedenken für eine Notifizierung der drei französischen Entwürfe der Erlasse 2020/0280/F, 2020/0281/F, 2020/0282. Sie ist der Ansicht, dass die Entwürfe gegen Art. 3 Abs. 1 und Anhang I B der Freisetzungsrichtline 2001/18/EG sowie gegen Art. 14 der Richtlinie 2002/53/EG und Art. 14 der Richtlinie 2002/55/EG (die Saatgut-Richtlinien) verstoßen.


Rechtliche Gründe:

Das Urteil des Conseil d' Etat und die drei daraus abgeleiteten Entwürfe führen eine Differenzierung von in-vitro- und in-vivo-Zufallsmutagenese ein, die (1) im Urteil des EuGH (C-528/16), (2) in der europäischen Gentechnikgesetzgebung und (3) in der wissenschaftlichen Entwicklung dieser Techniken keine Unterstützung findet.

 (1)   Der EuGH hat in seinem Urteil C-528/16 auf „Anwendungen konventioneller Methoden der Zufallsmutagenese“ verwiesen, ohne

weitere Differenzierung zwischen in in-vivo- und in-vitro- Zufallsmutagenese, Er unterschied lediglich zwischen "neuen Techniken/Methoden der Mutagenese, die seit der Verabschiedung der Richtlinie 2001/18 erschienen oder größtenteils entwickelt worden sind".

 (2)   Der europäische Gesetzgeber hat Union nie zwischen der zufälligen Mutagenese in vivo und der zufälligen Mutagenese in vitro

unterschieden: Anhang I B der Richtlinie über die absichtliche Freisetzung bezieht sich ohne weitere Spezifizierung auf die Mutagenese im Allgemeinen.

 (3)   Mutagenese ist ein Prozess durch den die genetische Information eines Organismus verändert wird; sie führt zu einer Mutation.

Mutagenesen können spontan in der Natur oder als Folge der Exposition gegenüber Mutagenen (ionisierenden Strahlen, mutagenen Chemikalien) auftreten. Die Mutagenese als Mittel zur Erhöhung der genetischen Variation in der Pflanzenzüchtung wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt und angewandt. Die Techniken wurden zunächst in vivo angewandt und etwa seit den 1970er Jahren wurden die in-vitro Schritte eingeführt Die Behandlungen von Pflanzen, Saatgut, Pflanzenteilen und Einzelzellen im Labor (in vitro) mit mutagenen Substanzen, ionisierender Strahlung immer üblicher geworden Die in-vitro-Mutagenese wurde bisher als eine Weiterentwicklung der in-vivo-Mutagenese angesehen. Das Ergebnis der Anwendung dieser Techniken gibt keine Grundlage für eine Unterscheidung zwischen in-vivo und in-vitro zufällige Mutagenese. Es ist vielmehr ein Kontinuum genomischer Veränderungen


Hinsichtlich der historischen Entwicklung der Technologie weist die Kommission die französischen Behörden darauf hin, dass der Conseil d'Etat nicht berücksichtigt hat, wann die Verfahren der zufälligen in-vitro-Mutagenese entwickelt und / oder angewendet wurden. Nach Informationen der Kommission wurden in- vitro-Zufallsmutagenese nicht nur lange vor der Verabschiedung der Freisetzungsrichtlinie 2001/18/EC entwickelt und eingesetzt. Ebenso liegen Informationen über die sichere Anwendung dieser Techniken vor. Die FAO/IAEA-Datenbank für Mutantensorten unterscheidet bei der Definition der physikalischen und chemischen Mutagenese nicht zwischen der Anwendung in vivo und in vitro. Daher ist die Anwendung in vivo oder in vitro in der Datenbank nicht systematisch spezifiziert.


Streichung in-vitro-mutagenisierter Pflanzen aus dem Sortenkatalog

Da in-vivo- und in-vitro Zufallsmutagenesen nicht als zwei unterschiedliche Techniken angesehen werden können, ist die Streichung von Pflanzen, die durch in-vitro Zufallsmutagenese gewonnen wurden, aus dem offiziellen französischen Sortenkatalog nicht gerechtfertigt. Nach Auffassung der Kommission sind diese in-vitro-mutagenisierte Pflanzen nicht als GVO anzusehen, da sie unter die Ausnahmeregelung der Freisetzungsrichtlinie 2001/18/EC nach Art. 3, Abs. 1, in Verbindung mit Anhang I B Nummer 1 fallen und dem Erwägungsgrund 17 entsprechen. Die Kommission betont die Notwendigkeit eines harmonisierten Ansatzes auf EU-Ebene in Blick auf das EuGH-Urteil. Des Weiteren betont sie, dass in den europäischen Gentechnikvorschriften nie zwischen in-vitro- und in-vivo-Zufallsmutagenese differenziert wird und die entsprechenden Bestimmungen (Artikel 2 und 3 sowie Anhang IB) der Freisetzungsrichtlinie 2001/18/EC seit ihrer Verabschiedung nie geändert worden sind. Daher ist die Absicht der französischen Behörden, Artikel 14 der Richtlinie 2002/53/EG anzuwenden nicht nachvollziehbar.


Zusätzlich würde eine unterschiedliche rechtliche Einstufungen von in-vivo- und in-vitro-Zufallsmutageneseverfahren Konflikten mit den EU-Rechtsvorschriften für den ökologischen Landbau (VO (EG) Nr. 834/2007 und EU 2018/848) führen, da Pflanzen, die aus nach Anhang I B ausgenommenen Techniken stammen, im ökologischen Landbau verwendet werden.


Schlussfolgerung: Die Kommission ist der Auffassung, dass eine Unterscheidung zwischen In-vitro- und In-vivo-Zufallsmutagenese-

Verfahren ungerechtfertigt und unzulässig ist. Die Kommission betrachtet in-vitro- und vivo- Zufallsmutagenese-Verfahren nicht als zwei verschiedene Techniken. 


Bedenken hinsichtlich der Handelshemmnisse

Die Umsetzung des Entwurfs würde dazu führen, dass Pflanzen, die durch in-vitro-Mutagenesetechniken erzeugt wurden/werden oder solche Prozesse in den Züchtungsprozess einbeziehen, allein in Frankreich als GVO eingestuft und als solche reguliert werden. Solche Pflanzen würden dann aus dem nationalen (französischer) Sortenkatalog, aber nicht notwendigerweise aus dem gemeinsamen EU-Sortenkatalog entfernt. Infolgedessen werden die im Gemeinsamen EU-Sortenkatalog aufgeführten Sorten in der gesamten EU mit Ausnahme Frankreichs weiterhin frei verkehrsfähig sein. (Entsprechendes gilt für Produkte, die aus solchen Pflanzen hergestellt wurden/werden.) Die Notifizierung des Entwurfs würde den freien Verkehr im gemeinsamen Binnenmarkt einschränken. Nach außen könnte die EU nicht mehr als ein gemeinsamer Markt auftreten.

Darüber hinaus würde die Notifizierung zu Behinderungen des freien Verkehrs von Nutzpflanzen und ökologischen Produkten führen. 


Schlussfolgerung: Die Kommission sieht schwerwiegende Auswirkungen auf den freien Warenverkehr innerhalb der EU und im

internationalen Handel (WTO).


Folgeaktivitäten: Aufgrund der ausführlichen Stellungnahme der Kommission und entsprechend Art. 6(2) der Richtlinie (EU) 2015/1535 ist die französische Regierung verpflichtet, zu den Ausführungen Stellung zu beziehen. Die Regierung muss die Kommission über Änderungen in dem Entwurf, die sich aus der Stellungnahme der Kommission ergeben, informieren. Diese Frist läuft am 09.11.2020 ab. Sollte die Regierung diesen Verpflichtungen nicht nachkommen, kann die Kommission ein Verfahren nach Artikel 258 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union eröffnen (Anrufung des EuGH).


Für die Folgeaktivitäten von Seiten Frankreichs ist die Stellungnahme des Hohen Rates für Biotechnologie (Haut Conseil des Biotechnologies, HCB) zum Verordnungsentwurf zur Änderung von Artikel D.531-2 des Umweltgesetzbuches von Bedeutung. Er hat nicht nur Pflanzen ermittelt, die durch in-vitro-Mutationsverfahren entstanden sind, sondern auch einen ► umfassenden Bericht zu in-vitro- und in-vivo-Zufallsmutagenesen vorgelegt. Bislang liegt der Bericht nur in französisch vor. Der Wissenschaftliche Ausschuss des HCB stellt fest, dass es keine biochemischen Unterschiede zwischen den Mutationen in isolierten Zellen oder plurizellulären Einheiten gibt, die durch zufällige in vitro, in vivo oder spontanen Mutagenesen entstanden sind. Ebenso gibt es keine Unterschiede in den Phänotypen, die durch diese Techniken entstanden sind. Nur die Wahrscheinlichkeiten und die Schnelligkeit solche Änderungen zu erhalten, variieren mit den Verfahren. Genau wie die Kommission hält HCB keine Unterscheidung zwischen in-vitro- und in-vivo-Mutagenesen für notwendig.  


► Englisch-sprachige Version: Notification procedure 2020/208/F “ in vitro mutagenesis”

Bartsch D., Ehlers U., Hartung F., Kahrmann J., Leggewie G., Sprink T. and Wilhelm R. (2020): Questions Regarding the Implementation of EU Mutagenesis Ruling in France. Front. Plant Sci.,   https://doi.org/10.3389/fpls.2020.584485

The European Commission has asked EU Member States for comments on a French law notification demanding plant varieties produced with the help of in vitro mutagenesis have to be eliminated from the national catalog of approved varieties because of missing legal authorization deemed required by genetic engineering law. Primary target are herbicide-tolerant Clearfield oilseed rape varieties. The scientific reasoning is questionable, traceability is illusive, and law enforcement is likely to be impossible.

https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fpls.2020.584485/full?utm_source=F-NTF&utm_medium=EMLX&utm_campaign=PRD_FEOPS_20170000_ARTICLE

European Seed: Petra Jorasch P., von Essen G.: EU Must Stop French Interpretation of Mutagenesis Plant Breeding and

Preserve Common Market for Seed

https://european-seed.com/2020/09/eu-must-stop-french-interpretation-of-mutagenesis-plant-breeding-and-preserve-common-market-for-seed/



12.09.20 bgf-Jany V01




Share by: