Der EuGH hält sich bei seinen Interpretationen des Gesetzestextes ganz eng an die Anfragen des Staatsrates (Conseil d´Etat). (RN 25, Fragen 1-4). Vermutlich hat der EuGH auch den Sachverhalt nicht richtig erfasst. da er doch mehr naturwissenschaftlicher Art ist, eine Abwägung zwischen "alten" und "neuen" Mutagenese-Verfahren. Das Urteil resultiert aus einer formal juristischen Auslegung des Textes der bestehenden GVO-Richtlinie (Freisetzungsrichtlinie 2001/187 EG).
Frage 1: A. Einstufung durch Mutagenese gewonnener Organismen
In RN 27 greift der EuGH auf die Definition eines GVO zurück.
„Nach der Begriffsbestimmung in Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie 2001/18 ist ein GVO ein Organismus mit Ausnahme des Menschen, dessen genetisches Material so verändert worden ist, wie es auf natürliche Weise durch Kreuzen und/oder natürliche Rekombination nicht möglich ist.“
Und kommt in RN 28, RN 29 zur Auffassung, dass
„Mutationen, die durch Verfahren/Methoden der Mutagenese wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden hervorgerufen werden, deren Anwendung der Erzeugung herbizidresistenter Pflanzensorten
dienen soll, am genetischen Material eines Organismus vorgenommene Veränderungen im Sinne von Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie darstellen.“
sowie
„Zum anderen wird, da nach den Angaben in der Vorlageentscheidung einige der genannten Verfahren/Methoden mit dem Einsatz chemischer oder physikalischer Mutagene und andere von ihnen mit dem Einsatz von Gentechnik verbunden sind, durch diese Verfahren/Methoden eine auf natürliche Weise nicht mögliche Veränderung am genetischen Material eines Organismus im Sinne dieser Vorschrift vorgenommen.“
Konsequenterweise folgt daraus (RN 30, 38):
„in Anbetracht dessen ist Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie 2001/18 dahin auszulegen, dass mit Verfahren/Methoden der Mutagenese gewonnene Organismen GVO im Sinne dieser Bestimmung darstellen.“
Der EuGH ist somit der Auffassung, dass Mutagenese-Verfahren, - seien es die seit Langen angewandten Verfahren zur Erzeugung strahlen- und chemikalieninduzierter Mutationen oder die neuen Verfahren des Genome Editing -, Veränderungen im genetischen Material eines Organismus erzeugen, wie sie auf natürliche Weise nicht entstehen
können. Alle so erzeugten Organismen stellen im Sinne der GVO-Verordnung gentechnisch veränderte Organismen (GVO) dar.
Wenn sich auch das Vorabentscheidungsverfahren primär auf die Einordnung von Mutagenese-Verfahren in der Anwendung von herbizidresistenter Pflanzen bezieht, muss aber angemerkt werden, dass das EuGH-Urteil alle Organismen (Mikroorganismen, Pflanzen, Tiere) mit Ausnahme des Menschen, einschließt.
In RN 34, 35, 36 stellt der EuGH fest, dass die Liste der Mutagenese-Verfahren in Angang 1 A nicht abschließend ist.
„Folglich kann nicht davon ausgegangen werden, dass diese Aufzählung andere als die dort ausdrücklich genannten Verfahren der genetischen Veränderung ausschließt.“
Dies bedeutet, dass noch weitere Verfahren in Anhang 1 A aufgenommen werden können. Aber die neue Mutagenese-Verfahren, wie z.B. CRISPR/Cas, TALEN,ZFNs usw. sind hier zwar nicht aufgeführt. Aber Anhang 1 A gilt somit auch für diese Mutagenese-Verfahren. Dagegen sind in Anhang 1 B ausdrücklich und abschließend nur die Verfahren/Methoden aufgeführt, für die die GVO-Richtline keine Anwendung finden soll (RN 37).
Frage 1: B. Ausschluss von Mutagenese-Verfahren aus dem Anwendungsbereich der GVO-Richtlinie (Anhang 1 B).
Nach Auffassung des EuGHs ist die Ausnahmeregelung in Hinblick auf die GVO-Richtlinie eng auszulegen (RN 41) und entsprechend des Erwägungsgrunds 17 sollen die Ausnahmen nur für Mutagenese-Verfahren gelten, die bereits praktische Anwendungen gefunden haben und seit Langem als sicher gelten (RN 45).
„Im 17. Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/18 heißt es, dass sie nicht für Organismen gelten sollte, die mit Techniken zur genetischen Veränderung gewonnen werden, die herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandt wurden und seit langem als sicher gelten.“
Die neuen Mutagenese-Verfahren aus den Genome-Editing-Techniken werden noch nicht "seit Langem" zur genetischen Modifizierung von Organismen in praktischen Anwendungen eingesetzt und dem entsprechend liegen noch keine Erfahrungen über die Auswirkungen solch mutierter Organismen für Mensch und Umwelt vor. Folgerichtig kommt der EuGH zum Schluss (RN 54):
„Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/18 ist in Verbindung mit Nr. 1 ihres Anhangs I B und im Licht ihres 17. Erwägungsgrundes dahin auszulegen, dass nur die mit Verfahren/Methoden der Mutagenese, die herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandt wurden und seit Langem als sicher gelten, gewonnenen Organismen vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgeschlossen sind.“
Hieraus kann geschlossen werden, dass Anhang 1 B in der gegenwärtigen Fassung der GVO-Richtlinie als abschließend zu betrachten ist. Er findet Anwendung ausschließlich für die „alten“ Mutagenese-Verfahren, die bereits angewendet werden und seit Langem als sicher gelten, d. h. er gilt nur für Verfahren, die bereits vor Inkrafttreten der GVO-Richtlinie bekannt waren und auch angewandt wurden. . Hier ist anzunehmen, dass hier der EuGH alle Mutagenese-Verfahren meint, die vor 2001 bekannt waren und angewandt wurden. Möglicherweise bezieht er sich aber bei den Verfahren auch auf die „alte“ Freisetzungsrichtlinie von 1990, denn der Wortlaut hat sich hier im Annex 1B ja nicht verändert.
Der EuGH äußert sich nicht darüber welchen Zeitraum er mit dem Ausdruck „seit Langem als sicher gelten“ ins Auge fasst. Die weitere Aufnahme von Mutagenese-Verfahren in Anhang 1 B obliegt dem Gesetzgeber, also der EU-Kommission.
Die Kläger (RN 21) als auch der Staatsrat (RN 23, 24) führen an, dass bei den neuen Mutagenese-Verfahren ähnlich wie bei der Erzeugung von herbizid-toleranter Pflanzen durch Transgenese (der Einführung von neuem fremden Erbmaterials) Organismen entstehen könnten, von denen Gefahren für Mensch und Umwelt ausgehen könnten. Deshalb geht der EuGH in RN 49-RN 53 auf die Anwendung des Vorsorgeprinzips beim Freisetzen bzw. Inverkehrbringen von durch Mutagenese erzeugter Organismen ein. Da nach Auffassung des EuGHs der Anhang 1 B die neuen Mutagenese-Verfahren nicht miteinschließt, muss das Vorsorgeprinzip angewandt werden (RN 52), um dem Ziel der GVO-Verordnung gerecht zu werden.
„ …das nach ihrem Art. 1 darin besteht, entsprechend dem Vorsorgeprinzip bei der absichtlichen Freisetzung von GVO in die Umwelt zu anderen Zwecken als dem Inverkehrbringen in der Union sowie bei ihrem Inverkehrbringen als Produkt oder in Produkten in der Union die menschliche Gesundheit und die Umwelt zu schützen.“
und RN 53
„Folglich würde eine Auslegung der Ausnahme in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/18 in Verbindung mit Nr. 1 ihres Anhangs I B, wonach die mit Verfahren/Methoden der Mutagenese gewonnenen Organismen unterschiedslos vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgenommen wären, den mit ihr verfolgten Schutzzweck beeinträchtigen und dem Vorsorgeprinzi p zuwiderlaufen, zu dessen Umsetzung die Richtlinie dient.“
Die Anmerkungen (RN 22) des französischen Premierministers und des Landwirtschaftsministeriums zu den postulierten Gefährdungen hat der EuGH aus Grund der formalen juristischen Auslegung des Gesetzestextes ignoriert.
RN 22:
„Denn die angeblichen Gefahren ergäben sich nicht aus den Eigenschaften der durch genetische Veränderungen gewonnenen
Pflanze, sondern aus den Anbaupraktiken der Landwirte. Zudem seien die durch die neuen Verfahren der gezielten Mutagenese hervorgerufenen Mutationen mit spontanen Mutationen oder induzierten Zufallsmutationen vergleichbar, und unbeabsichtigte Mutationen könnten durch Kreuzungsverfahren bei der Sortenauswahl eliminiert werden.“
Dies zeigt, dass der EuGH das generelle Vorgehen in der Pflanzenzüchtung – die Selektion der geeignetsten Pflanzen - nicht berücksichtigt hat. Fast könnte vermutet werden, dass der EuGH annimmt, dass durch klassische Verfahren mutierte Pflanzen auch ohne jegliche weitere Selektion prinzipiell sicher sind. Ebenso hat der EuGH die wissenschaftlichen Ausführungen der
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High Level Group of Scientific Advisors
– einer von der EU-Kommission eingesetzten Expertengruppe - zu den Vergleichen der unterschiedlichen Mutagenese-Verfahren (Seiten 81 - 132) nicht weiter betrachtet, da nur die juristische Auslegung des Gesetzestextes gefordert war. Eine naturwissenschaftliche Beratung hätte hier dem EuGH angestanden.
Frage 2 in Bezug auf die Saatgutrichtlinie 2002/53 wurde letztlich ähnlich beantwortet, wie Frage 1 hinsichtlich der Freisetzungsrichtlinie 2001/18 EG.
RN 68:
„Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2002/53 dahin auszulegen ist, dass von den in dieser Bestimmung vorgesehenen Verpflichtungen die mit Verfahren/Methoden der Mutagenese, die herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandt wurden und seit Langem als sicher gelten, gewonnenen Sorten ausgenommen sind.“
Frage 3: Dürfen Mitgliedsstaaten durch Mutagenese-Verfahren erzeugte Organismen, die in Anhang 1 B von den Verpflichtungen der GVO-Richtlinie ausgenommen sind, separat regulieren?
Hier folgt der EuGH den Ausführungen aus den Schlussanträgen von GA Bobeck und führt in RN 83 aus:
„Unter diesen Umständen ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/18 in Verbindung mit Nr. 1 ihres Anhangs I B, da er die mit Verfahren/Methoden der Mutagenese, die herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandt wurden und seit Langem als sicher gelten, gewonnenen Organismen vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausschließt, dahin auszulegen ist, dass den Mitgliedstaaten durch ihn nicht die Befugnis genommen wird, solche Organismen unter Beachtung des Unionsrechts, insbesondere der in den Art. 34 bis 36 AEUV aufgestellten Regeln über den freien Warenverkehr, den in der Richtlinie vorgesehenen Verpflichtungen oder anderen Verpflichtungen zu unterwerfen.“
Mitgliedsstaaten dürfen durch die „alten“ Mutagenese-Verfahren gewonnenen Organismen regulieren. Den Mitgliedstaaten steht es somit frei unter der Voraussetzung der Beachtung übergreifender Grundsätze des Unionsrechts, Maßnahmen zur Regulierung solcher Organismen zu erlassen. Die nationalen Regelungen müssen jedoch den Grundsätzen des Unionsrechts entsprechen und dürfen nicht willkürlichen Annahmen oder politischen Vorstellungen entsprechen.