EuGH-Urteil "Mutagenese"

EuGH-Urteil "Mutagenese": Durch Mutagenese gewonnene Organismen sind GVO

Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) fällt ein wegweisendes Grundsatzurteil zur Einordnung neuer Mutageneseverfahren.

Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) fällte am 25. Juli ein wegweisendes Grundsatzurteil zur Einordnung von Mutageneseverfahren.
"Durch Mutagenese gewonnene Organismen sind genetisch veränderte Organismen (GVO) und unterliegen grundsätzlich den in der GVO-Richtlinie vorgesehenen Verpflichtungen"
"Von diesen Verpflichtungen ausgenommen sind aber die mit Mutagenese-Verfahren, die herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen verwendet wurden und seit langem als sicher gelten, gewonnenen Organismen, wobei es den Mitgliedstaaten freisteht, diese Organismen unter Beachtung des Unionsrechts den in der GVO-Richtlinie vorgesehenen oder anderen Verpflichtungen zu unterwerfen."
Unter Mutagenese fasst der EuGH alle Verfahren zusammen, mit denen das genetische Material (DNA) von Organismen ohne die Einführung fremder DNA verändert wird. Nach Auffassung des EuGHs sind strahlen-induzierten und /oder durch mutagene Chemikalien herbei geführte Mutationen als in ihren Auswirkungen als sicher anzusehen, da in ihrer langen Anwendungszeit keine negativen Einflüsse auf Mensch und Umwelt beobachtet wurden. Dagegen bestünden bei den modernen Mutagenese-Verfahren aus dem Genome Editing (Crispr/Cas, TALEN usw.) noch keine hinreichenden Erfahrungen und daher müssten aus dem Vorsorgeprinzip heraus solche genom-editierten Organismen den Regelungen aus der Gentechnik-Gesetzgebung unterworfen werden. Dies bedeutet, dass diese Organismen und daraus gewonnene Erzeugnisse vor dem Inverkehrbringen einer umfassenden Sicherheitsbewertung für Mensch, Tier und Umwelt unterzogen werden müssen. Ebenso müssen sie rückverfolgbar sein und gekennzeichnet werden.

Rechtssache C-528/16

Das Verfahren: Confédération paysanne, Réseau Semences Paysannes, Les Amis de la Terre France, Collectif vigilance OGM et
Pesticides 16, Vigilance OG2M, CSFV 49, OGM dangers, Vigilance OGM 33,Fédération Nature & Progrès
    gegen
Premier ministre, Ministre de l’agriculture, de l’agroalimentaire et de la forêt
(Vorabentscheidungsersuchen des Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich))

Hintergrund
Im März 2015 hat der Landwirtschaftsverband Confédération paysanne gemeinsam mit acht weiteren Tier- und Naturschutzverbänden beim Staatsrat (Conseil d’État) gegen eine geplante Ergänzung in der Freisetzungsrichtline 2001/18/EG (GVO-Richtlinie) Klage erhoben. Hier sollten die neuen Mutagenese-Verfahren (z. B. Genome Editing) von den umfassenden strengen Regelungen des allgemeinen Gentechnikrechtes ausgenommen werden. Ähnlich wie es bereits in Anhang 1B der GVO-Richtlinie für seit Langem angewandte Verfahren, wie die strahlen-induzierte oder chemische Mutagenese, praktiziert und akzeptiert wird. Die Kläger sind der Ansicht, dass diese Mutagenese-Verfahren, da sie neu sind, mit noch unbekannten Risiken für Mensch und Umwelt behaftet sein könnten. Daher solle auch Anbau und Vermarktung von durch Mutagenese-Verfahren gewonnene herbizid-tolerante Rapsvarietäten verboten werden.

Der Staatsrat (Conseil d’État) sah diese Angelegenheit für alle EU-Mitgliedsstaaten als übergeordnet an. Deshalb hat er sich am 03.10.2016 für ein Vorabentscheidungsverfahren den EuGH gewandt. Der EuGH sollte zur gesetzlichen Einordnung von Mutagenese-Verfahren in Sinne des Gentechnikrechtes bzw. GVO-Richtlinie Stellung beziehen.

Am 18.01.2018 veröffentlichte der Gerichtshof (EuGH) die Schlussanträge von Generalanwalt M. Bobek zu der Anfrage des französischen Conseil d’État. In der Pressemitteilung heißt es: „Nach Ansicht von Generalanwalt Bobek sind durch Mutagenese gewonnene Organismen grundsätzlich von den in der Richtlinie über genetisch veränderte Organismen geregelten Verpflichtungen ausgenommen." Die Empfehlungen des Generalanwalts sind für den EuGH nicht bindend und der EuGH ist diesen auch nicht gefolgt.

Analyse

Der EuGH hält sich bei seinen Interpretationen des Gesetzestextes ganz eng an die Anfragen des Staatsrates (Conseil d´Etat). (RN 25, Fragen 1-4). Vermutlich hat der EuGH auch den Sachverhalt nicht richtig erfasst. da er doch mehr naturwissenschaftlicher Art ist, eine Abwägung zwischen "alten" und "neuen" Mutagenese-Verfahren. Das Urteil resultiert aus einer formal juristischen Auslegung des Textes der bestehenden GVO-Richtlinie (Freisetzungsrichtlinie 2001/187 EG).

Frage 1: A. Einstufung durch Mutagenese gewonnener Organismen
In RN 27 greift der EuGH auf die Definition eines GVO zurück.
„Nach der Begriffsbestimmung in Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie 2001/18 ist ein GVO ein Organismus mit Ausnahme des Menschen, dessen genetisches Material so verändert worden ist, wie es auf natürliche Weise durch Kreuzen und/oder natürliche Rekombination nicht möglich ist.“
Und kommt in RN 28, RN 29 zur Auffassung, dass
„Mutationen, die durch Verfahren/Methoden der Mutagenese wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden hervorgerufen werden, deren Anwendung der Erzeugung herbizidresistenter Pflanzensorten dienen soll, am genetischen Material eines Organismus vorgenommene Veränderungen im Sinne von Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie darstellen.“
sowie
„Zum anderen wird, da nach den Angaben in der Vorlageentscheidung einige der genannten Verfahren/Methoden mit dem Einsatz chemischer oder physikalischer Mutagene und andere von ihnen mit dem Einsatz von Gentechnik verbunden sind, durch diese Verfahren/Methoden eine auf natürliche Weise nicht mögliche Veränderung am genetischen Material eines Organismus im Sinne dieser Vorschrift vorgenommen.“
Konsequenterweise folgt daraus (RN 30, 38):
„in Anbetracht dessen ist Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie 2001/18 dahin auszulegen, dass mit Verfahren/Methoden der Mutagenese gewonnene Organismen GVO im Sinne dieser Bestimmung darstellen.“

Der EuGH ist somit der Auffassung, dass Mutagenese-Verfahren, - seien es die seit Langen angewandten Verfahren zur Erzeugung strahlen- und chemikalieninduzierter Mutationen oder die neuen Verfahren des Genome Editing -, Veränderungen im genetischen Material eines Organismus erzeugen, wie sie auf natürliche Weise nicht entstehen können. Alle so erzeugten Organismen stellen im Sinne der GVO-Verordnung gentechnisch veränderte Organismen (GVO) dar.
Wenn sich auch das Vorabentscheidungsverfahren primär auf die Einordnung von Mutagenese-Verfahren in der Anwendung von herbizidresistenter Pflanzen bezieht, muss aber angemerkt werden, dass das EuGH-Urteil alle Organismen (Mikroorganismen, Pflanzen, Tiere) mit Ausnahme des Menschen, einschließt.

In RN 34, 35, 36 stellt der EuGH fest, dass die Liste der Mutagenese-Verfahren in Angang 1 A nicht abschließend ist.
„Folglich kann nicht davon ausgegangen werden, dass diese Aufzählung andere als die dort ausdrücklich genannten Verfahren der genetischen Veränderung ausschließt.“

Dies bedeutet, dass noch weitere Verfahren in Anhang 1 A aufgenommen werden können. Aber die neue Mutagenese-Verfahren, wie z.B. CRISPR/Cas, TALEN,ZFNs usw. sind hier zwar nicht aufgeführt. Aber Anhang 1 A gilt somit auch für diese Mutagenese-Verfahren. Dagegen sind in Anhang 1 B ausdrücklich und abschließend nur die Verfahren/Methoden aufgeführt, für die die GVO-Richtline keine Anwendung finden soll (RN 37).

Frage 1: B. Ausschluss von Mutagenese-Verfahren aus dem Anwendungsbereich der GVO-Richtlinie (Anhang 1 B).

Nach Auffassung des EuGHs ist die Ausnahmeregelung in Hinblick auf die GVO-Richtlinie eng auszulegen (RN 41) und entsprechend des Erwägungsgrunds 17 sollen die Ausnahmen nur für Mutagenese-Verfahren gelten, die bereits praktische Anwendungen gefunden haben und seit Langem als sicher gelten (RN 45).
„Im 17. Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/18 heißt es, dass sie nicht für Organismen gelten sollte, die mit Techniken zur genetischen Veränderung gewonnen werden, die herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandt wurden und seit langem als sicher gelten.“

Die neuen Mutagenese-Verfahren aus den Genome-Editing-Techniken werden noch nicht "seit Langem" zur genetischen Modifizierung von Organismen in praktischen Anwendungen eingesetzt und dem entsprechend liegen noch keine Erfahrungen über die Auswirkungen solch mutierter Organismen für Mensch und Umwelt vor. Folgerichtig kommt der EuGH zum Schluss (RN 54):
„Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/18 ist in Verbindung mit Nr. 1 ihres Anhangs I B und im Licht ihres 17. Erwägungsgrundes dahin auszulegen, dass nur die mit Verfahren/Methoden der Mutagenese, die herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandt wurden und seit Langem als sicher gelten, gewonnenen Organismen vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgeschlossen sind.“

Hieraus kann geschlossen werden, dass Anhang 1 B in der gegenwärtigen Fassung der GVO-Richtlinie als abschließend zu betrachten ist. Er findet Anwendung ausschließlich für die „alten“ Mutagenese-Verfahren, die bereits angewendet werden und seit Langem als sicher gelten, d. h. er gilt nur für Verfahren, die bereits vor Inkrafttreten der GVO-Richtlinie bekannt waren und auch angewandt wurden. . Hier ist anzunehmen, dass hier der EuGH alle Mutagenese-Verfahren meint, die vor 2001 bekannt waren und angewandt wurden. Möglicherweise bezieht er sich aber bei den Verfahren auch auf die „alte“ Freisetzungsrichtlinie von 1990, denn der Wortlaut hat sich hier im Annex 1B ja nicht verändert.

Der EuGH äußert sich nicht darüber welchen Zeitraum er mit dem Ausdruck „seit Langem als sicher gelten“ ins Auge fasst. Die weitere Aufnahme von Mutagenese-Verfahren in Anhang 1 B obliegt dem Gesetzgeber, also der EU-Kommission.

Die Kläger (RN 21) als auch der Staatsrat (RN 23, 24) führen an, dass bei den neuen Mutagenese-Verfahren ähnlich wie bei der Erzeugung von herbizid-toleranter Pflanzen durch Transgenese (der Einführung von neuem fremden Erbmaterials) Organismen entstehen könnten, von denen Gefahren für Mensch und Umwelt ausgehen könnten. Deshalb geht der EuGH in RN 49-RN 53 auf die Anwendung des Vorsorgeprinzips beim Freisetzen bzw. Inverkehrbringen von durch Mutagenese erzeugter Organismen ein. Da nach Auffassung des EuGHs der Anhang 1 B die neuen Mutagenese-Verfahren nicht miteinschließt, muss das Vorsorgeprinzip angewandt werden (RN 52), um dem Ziel der GVO-Verordnung gerecht zu werden.
„ …das nach ihrem Art. 1 darin besteht, entsprechend dem Vorsorgeprinzip bei der absichtlichen Freisetzung von GVO in die Umwelt zu anderen Zwecken als dem Inverkehrbringen in der Union sowie bei ihrem Inverkehrbringen als Produkt oder in Produkten in der Union die menschliche Gesundheit und die Umwelt zu schützen.“
und RN 53
„Folglich würde eine Auslegung der Ausnahme in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/18 in Verbindung mit Nr. 1 ihres Anhangs I B, wonach die mit Verfahren/Methoden der Mutagenese gewonnenen Organismen unterschiedslos vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgenommen wären, den mit ihr verfolgten Schutzzweck beeinträchtigen und dem Vorsorgeprinzi p zuwiderlaufen, zu dessen Umsetzung die Richtlinie dient.“

Die Anmerkungen (RN 22) des französischen Premierministers und des Landwirtschaftsministeriums zu den postulierten Gefährdungen hat der EuGH aus Grund der formalen juristischen Auslegung des Gesetzestextes ignoriert. 
RN 22:
Denn die angeblichen Gefahren ergäben sich nicht aus den Eigenschaften der durch genetische Veränderungen gewonnenen
Pflanze, sondern aus den Anbaupraktiken der Landwirte. Zudem seien die durch die neuen Verfahren der gezielten Mutagenese hervorgerufenen Mutationen mit spontanen Mutationen oder induzierten Zufallsmutationen vergleichbar, und unbeabsichtigte Mutationen könnten durch Kreuzungsverfahren bei der Sortenauswahl eliminiert werden.“

Dies zeigt, dass der EuGH das generelle Vorgehen in der Pflanzenzüchtung – die Selektion der geeignetsten Pflanzen - nicht berücksichtigt hat. Fast könnte vermutet werden, dass der EuGH annimmt, dass durch klassische Verfahren mutierte Pflanzen auch ohne jegliche weitere Selektion prinzipiell sicher sind. Ebenso hat der EuGH die wissenschaftlichen Ausführungen der High Level Group of Scientific Advisors – einer von der EU-Kommission eingesetzten Expertengruppe - zu den Vergleichen der unterschiedlichen Mutagenese-Verfahren (Seiten 81 - 132) nicht weiter betrachtet, da nur die juristische Auslegung des Gesetzestextes gefordert war. Eine naturwissenschaftliche Beratung hätte hier dem EuGH angestanden.

Frage 2 in Bezug auf die Saatgutrichtlinie 2002/53 wurde letztlich ähnlich beantwortet, wie Frage 1 hinsichtlich der Freisetzungsrichtlinie 2001/18 EG.
RN 68:
„Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2002/53 dahin auszulegen ist, dass von den in dieser Bestimmung vorgesehenen Verpflichtungen die mit Verfahren/Methoden der Mutagenese, die herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandt wurden und seit Langem als sicher gelten, gewonnenen Sorten ausgenommen sind.“
 
Frage 3: Dürfen Mitgliedsstaaten durch Mutagenese-Verfahren erzeugte Organismen, die in Anhang 1 B von den Verpflichtungen der GVO-Richtlinie ausgenommen sind, separat regulieren?
Hier folgt der EuGH den Ausführungen aus den Schlussanträgen von GA Bobeck und führt in RN 83 aus:
„Unter diesen Umständen ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/18 in Verbindung mit Nr. 1 ihres Anhangs I B, da er die mit Verfahren/Methoden der Mutagenese, die herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandt wurden und seit Langem als sicher gelten, gewonnenen Organismen vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausschließt, dahin auszulegen ist, dass den Mitgliedstaaten durch ihn nicht die Befugnis genommen wird, solche Organismen unter Beachtung des Unionsrechts, insbesondere der in den Art. 34 bis 36 AEUV aufgestellten Regeln über den freien Warenverkehr, den in der Richtlinie vorgesehenen Verpflichtungen oder anderen Verpflichtungen zu unterwerfen.“

Mitgliedsstaaten dürfen durch die „alten“ Mutagenese-Verfahren gewonnenen Organismen regulieren. Den Mitgliedstaaten steht es somit frei unter der Voraussetzung der Beachtung übergreifender Grundsätze des Unionsrechts, Maßnahmen zur Regulierung solcher Organismen zu erlassen. Die nationalen Regelungen müssen jedoch den Grundsätzen des Unionsrechts entsprechen und dürfen nicht willkürlichen Annahmen oder politischen Vorstellungen entsprechen.
Fazit:
Alle Organismen (Mikroorganismen, Pflanzen und Tiere), die durch Mutagenese-Verfahren erzeugt wurden, sind als gentechnisch veränderte Organismen (GVO) im Sinne der GVO-Richtlinie einzustufen. Dies schließt auch die Organismen, die mit Hilfe der in Anhang 1 B aufgeführten Methoden gewonnen wurden, ein. Diese Organismen unterliegen jedoch nicht den strengen Auflagen einer Risikobewertung für Mensch und Umwelt. Ebenso müssen solche Organismen und daraus hergestellte Erzeugnisse nicht rückverfolgbar sein oder gekennzeichnet werden.
Braugerste-Strahleninduzierte Mutationen
Getreidevarietäten, die mit Hilfe von gamma-Strahlen und Röntgenstrahlen mutagenisiert wurden, sind gentechnisch verändert. Braugerste oder Hartweizen sind gentechnisch veränderte Organismen, die jedoch nicht gekennzeichnet werden müssen.
Nahezu alle Mikroorganismen, die in der Lebensmittelverarbeitung oder in Fermentation geingesetzt werden, wurden mit Hilfe mutagener Chemikalien erzeugt. Sie sind nach dem Urteil nicht kennzeichnungspflichtige GVO. Die von solchen Mikroorganismen oder Pflanzen gewonnenen Lebensmittel sind somit nicht ohne Gentechnik erzeugt wurden.  

Konsequenzen 

Nach den Schlussanträgen von Generalanwalt Bobek vom Januar 2018 hat dieses Urteil zu den Mutagenese-Verfahren fast alle überrascht. Wenig überraschend leitet der EuGH sein Urteil aus dem Gesetzestext der Freisetzungsrichtlinie von 2001 ab. Das Urteil spiegelt das Versagen von Politik und insbesondere der EU-Kommission wider. Beharrlich hat man sich einer Revision der Richtlinie, die letztlich auf den Wissensstand aus den 80-iger Jahre aus dem letzten Jahrhundert zurückgeht, verweigert. Die Fortschritte in Wissenschaft und Technik und den daraus gewonnenen Erkenntnissen wurden weitgehend ignoriert. Eine Anpassung der Freisetzungsrichtlinie an Stand von Wissenschaft, Technik und Sozio-Ökonomie wurde aus politischen Gründen nicht vorgenommen. Juristen sind keine Naturwissenschaftler. Sie können naturwissenschaftliche und toxikologischen Erkenntnisse, den Stand von Wissenschaft und Technik ignorieren; sie halten sich an den vorgegebenen Gesetzestext. Das Ergebnis ist ein solches Urteil.
 
Primär veranlasst das Urteil den französischen Staatsrat (Conseil d´Etat) zum Handeln. Er muss das Urteil umsetzen und rechtlich verbindliche Antworten zu den Fragen aus dem Vorabentscheidungsverfahren geben.

In Anbetracht der Wahlen (Mai 2019) zum Europaparlament ist es mehr als fraglich, ob sich die bestehende EU-Kommission mit den Konsequenzen aus dem EuGH-Urteil noch beschäftigt und mögliche Änderungen an der Freisetzungsrichtline 2001/18/EC ins Auge fasst. Nachdem sie es jahrelang versäumt hat, einen Schritt in diese Richtung zu unternehmen, ist dieses Urteil ein gutes Alibi wieder nichts unternehmen zu müssen. Die Kommission kann sich auf den Standpunkt zustellen, dass mit dem Urteil in Bezug auf die Freisetzungsrichtlinie und den Anwendungsbereich alles eindeutig geregelt ist.

Das Urteil und seine mögliche direkte Übertragung in die Freisetzungsrichtlinie baut für die europäische Forschung und Wirtschaft eine weitere Hürde für praktische Anwendungen aus der modernen Biotechnologie in der Agrar- und Lebensmittelwirtschaft auf. Das Urteil hat eben nicht nur Auswirkungen auf die Pflanzenzüchtung, sondern auch auf die Tierzucht und die Entwicklung von Mikroorganismen. Mit der Umsetzung des Urteils würde sich die Europäische Union weitgehend aus einem innovativen Forschungsbereich verabschieden und wirtschaftlich bedeutsamen Anwendungen quasi den Zugang verweigern bzw. nur mit hohen kostenintensiven Prüfauflagen ermöglichen. Selbstverständlich hat das Vorsorge Vorrang und muss angemessen beachtet werden, aber wo kaum Risiken erkennbar sind oder wo sie nicht grundsätzlich andersartig sind, wie bei konventionell herbeigeführten zufälligen Mutationen, sollte auch so gehandelt werden.

Mit dem Urteil wird die Forschung weitgehend ins Labor, in ein geschlossenes System, zurückgedrängt. Universitäten und staatliche Forschungseinrichtungen können ihre Forschungsergebnisse aus finanziellen Gründen kaum noch unter natürlichen Bedingungen in der Natur auf ihre tatsächliche Funktionalität überprüfen. Das Urteil behindert grundsätzlich nicht europäische Forscher/innen auf dem Gebieten des Genom Editings weiter zu forschen, oft sogar mit staatlicher finanzieller Unterstützung, aber die neuen Erkenntnisse können kaum im eigenen Lande umgesetzt werden. Die Forschung wird quasi als „Entwicklungshilfe“ für andere Länder (vorwiegend USA und China) oder für die großen Chemiekonzerne betrieben.
Die europäische Pflanzen- und Tierzüchtung ist vorwiegend klein- und mittelständisch und weist ein hohes innovatives Forschungspotential in Bezug auf die neuen Herausforderungen, wie Klimawandel, ökologische Anbau- und Tierhaltungsformen, Pflanzen- und Tiererkrankungen usw. auf. Ihre Innovationen – erzeugt mit Hilfe genom-editierter Organismen – werden sie nun kaum umsetzen können. Für die klein- und mittelständischen europäischen Pflanzen- und Tierzüchter treten schwere Zeiten an. Der Konkurrenzkampf wird noch schärfer und ihr eigenständiges wirtschaftliches Überleben weiter erschwert. Die Konzentration auf wenige multi-nationale Konzerne wird gesetzlich gefördert, denn nur diese können die kostenaufwändigen Zulassungs- und Umweltprüfverfahren noch aufbringen. Aber möglicherweise möchte europäische Gesetzgeber aus Sicherheitsgründen bzw. dem Vorsorgeprinzip heraus gar keine klein- und mittelständischen Unternehmen mehr in diesem Bereich. Es erscheint ihm möglicherweise doch sicherer und politisch opportun z.B. solche trocken-, krankheitsresistente oder ertragreiche Pflanzenvarietäten von Großkonzernen entwickeln, im Ausland von Landwirten anbauen und von Handelsunternehmen die Erzeugnisse dann in die EU importieren zulassen.

Das EuGH-Urteil stellt eine Barriere für wissenschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen in der Europäischen Union auf. In der Zukunft wird es für Verwerfungen im Welthandel kommen. Dies sollte unbedingt vermieden werden. Politik und EU-Kommission sind gefordert: Es gilt nun zu differenzieren, kohärent einzuordnen, abzuwägen und dann angemessene politische Entscheidungen zu treffen. Mehr als 60 wissenschaftlichen Institutionen und Forscherpersönlichkeiten haben sich zur Unterstützung dieses Prozesses bereits mit entsprechenden Vorschlägen zur Nutzung der Möglichkeiten des Genome Editing an EU-Kommissionspräsidenten Junker gewandt. Eine Vielzahl von Wissenschaftsorganisationen hat sich in der Vergangenheit bereits deutlich gegen eine nun erfolgte, pauschale Einordnung der neuen Züchtungsmethoden als GVO ausgesprochen. Der Verband Biologie, Biowissenschaften und Biomedizin in Deutschland-VBIO gemeinsam mit dem WGG und weiteren Fachgesellschaften unterbreiteten in einem Impulspapier pragmatische Vorschläge zur Regulierung der neuen Züchtungstechniken.

Richtline 2001/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. März 2001 ü̧ber die absichtliche Freisetzung genetisch veränderter Organismen in die Umwelt und zur Aufhebung der Richtlinie 90/220/EWG des Rates. ABl L L 106, 1-39; 17.4.2001

Richtlinie 2002/53/EG des Rates vom 13. Juni 2002 ü̧ber einen gemeinsamen Sortenkatalog für landwirtschaftliche Pflanzenarten, ABl L. 193, 1 – 11, 20.07.2002

High Level Group of Scientific Advisors (2017): Explanatory Note on New Techniques in Agricultural Biotechnology; Explanatory Note 02


bgf-Jany, 19.08.2018
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